Leseprobe 1: Bleibe bei mir

Kapitel 1

Tina setzte ihre zielgerichtete, steile Unterschrift unter den Brief, den Mia am Abend zuvor auf ihren Schreibtisch gelegt hatte.
Dr. med. Christina Villiger
Die Kirchturmuhr schlug Viertel vor neun. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, die ihr Jack vor 36 Jahren geschenkt hatte. All die Jahre hatte sie sie getragen wie einen Bußgürtel, um nie zu vergessen. Wenn sie doch nur seine Beweggründe hätte erfahren können. Allerdings hätte sie nicht vor, sich mit ihm zu versöhnen, sondern sie würde ihm die Hölle heißmachen und ihm das Unrecht zurückzahlen. Mit einem müden Knurren scheuchte sie die alten Erinnerungen weg, die wie ein tropfender Wasserhahn zu einem ärgerlichen, aber vertrauten Geräusch geworden waren. Jetzt stand Wichtigeres an.
Um neun Uhr wurde sie im Aufsichtsrat erwartet. Der ominöse Punkt 8: Personelle Veränderungen, zu dem sie keine weiteren Informationen erhalten hatte, gab ihr zu denken. Dabei geschah in der Klinik nichts, ohne dass sie es als Direktorin erfuhr.
Mit spitzen Fingern nahm sie die Brille ab, kramte in ihrer Schublade nach einem Brillenreinigungstuch und putzte sorgfältig die Gläser. Dann legte sie die Brille auf den Schreibtisch und massierte sich die Schläfen. Die Kopfschmerzen verschwanden nicht. Dennoch setzte sie sie wieder auf, strich sich eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr, stand auf und zog den Kittel gerade. Nach einem weiteren Blick auf die Uhr dehnte sie den Nacken, straffte die Schultern und griff nach ihren Sitzungsakten.
Zielstrebig verließ sie ihr Büro und machte sich auf den Weg in den dritten Stock. Sie wusste genau, wie lange sie für die Strecke durch die nach starkem Reinigungsmittel riechenden Flure benötigte. Punkt neun musste sie den Türgriff hinunterdrücken. Immer noch grübelte sie über die Tagesordnung nach. Pflegefachkräfte, Hotel- und Reinigungspersonal liefen direkt über die Personalabteilung. Der Aufsichtsrat behandelte nur die Einstellung oder Entlassung von Ärzten, und da standen aktuell keine Veränderungen an.
Oder etwa doch? Wütend verdrängte sie das mulmige Gefühl im Bauch, das sich breitmachen wollte.

Anstatt des Lifts, wollte sie die Treppe nehmen. Plötzlich klapperte hinter ihr eine Tür.
»Tina, hast du einen Moment?« Es war die Stimme von Dr. Merten, dem Leiter der Abteilung Alkoholentzug.
Tina drosselte ihr Tempo ein wenig und rief über die Schulter: »Hat es Zeit bis nachher? Ich muss zur AR-Sitzung.«
Dr. Merten holte zu ihr auf. »Es heißt, ein neuer Oberarzt solle eingestellt werden.«
Tina runzelte die Stirn und beschleunigte wieder. »Das wüsste ich.« Als durchtrainierte Läuferin konnte sie mit ihren 1,78 m ziemlich Gas geben. Merten musste traben, um mit ihr Schritt halten zu können.
»Doch, ganz bestimmt. Irgendetwas ist im Busch. Ich dachte, vielleicht weißt du Genaueres.«
Tina warf ihm einen grimmigen Blick zu. »Wenn ich jedes Gerücht der letzten fünfundzwanzig Jahre ernst genommen hätte, wären jetzt meine Haare grau oder ausgefallen.« Unbewusst strich sie mit der freien Hand durch ihre kastanienbraune, lockige Mähne, die trotz ihrer bald 59 Jahre kaum ein weißes Haar durchzog. Alle paar Wochen riss sie sich vor dem Spiegel einzeln aus, um ihrer Krone Geltung zu verschaffen.
An der Treppe angelangt, blieb sie stehen und blickte Merten mit einer hochgezogenen Augenbraue an. »Ist sonst noch was?«
Keuchend schüttelte er den Kopf.
»Also dann.« Es klang wie ein Knurren. Sie nickte ihm knapp zu, dann rannte sie die Treppe hoch und nahm immer zwei Stufen auf einmal.
Beim Sitzungsraum angelangt, legte sie die Hand auf den Türgriff und verharrte einen Moment, um sich zu sammeln. Der neunte Glockenschlag erklang. Energisch klopfte sie an und trat schwungvoll ein.

Am langen Eichentisch saßen die sieben Aufsichtsräte, vier Frauen und drei Männer, mit unterschiedlich ordentlich ausgebreiteten Sitzungsunterlagen. Am Kopfende thronte die Aufsichtsratsvorsitzende, Kantonsrätin Vera Imboden. Außer in dieser Klinik, hatte sie noch in einer Handvoll weiterer Gremien den Vorsitz, darunter auch in einem Basler Pharmaunternehmen.
Vera Imboden warf Tina einen eisigen Blick zu und wies auf den Sessel am Fußende des Tisches. »Nehmen Sie Platz, Frau Dr. Villiger. Dann können wir weitermachen.«
Tina nickte grüßend in die Runde und setzte sich. Obwohl ihr die Frage auf der Zunge brannte, worum es sich bei Punkt 8 handelte, hütete sie sich, vorzupreschen. Vera Imboden reagierte äußerst empfindlich, wenn jemand ihrer Gesprächsführung vorgriff. Das hatte sie gleich nach ihrem Amtsantritt demonstriert und den allseits beliebten Vizepräsidenten wegen einer Lappalie aus dem Gremium geworfen. Äußerlich wirkte der Aufsichtsrat harmonisch, aber hinter den Kulissen kam es immer wieder zu Machtkämpfen. Die Anhänger des früheren Vizepräsidenten, der offen für alternative Behandlungsmethoden eingetreten war, opponierten gegen Imbodens Geschäftspolitik. Durch ihre Verflechtung mit der Pharmaindustrie verfolgte sie die Ansätze der Schulmedizin und favorisierte bei der Behandlung die Gabe von Medikamenten. Andere Ansätze wurden von ihr rigoros eliminiert und Tina tat gut daran, sich diesen Leitlinien unterzuordnen.
Die Tagesordnungspunkte 4 bis 7 wurden in der üblichen Routine abgehandelt. Tina erstattete Bericht, beantwortete Fragen und Vera Imboden ließ über die Beschlüsse abstimmen. Endlich war Punkt 8 an der Reihe, der letzte, den Tinas Anwesenheit erforderte. Danach würde sie die Sitzung verlassen und erst wieder zum Mittagessen dazustoßen.
»Frau Dr. Villiger, wie lange arbeiten Sie jetzt schon in der Klinik Sonnenhof?«
»Fast fünfundzwanzig Jahre.« Beinahe hätte sie »Gnädige Frau« hinzugefügt.
»Und wann haben Sie den letzten Urlaub gehabt?«
Worauf wollte sie hinaus? Tina legte die Hände zusammen. »Ich denke, das muss im letzten Jahr gewesen sein.« Eigentlich war das etwas, was ganz bestimmt in Imbodens Sitzungsunterlagen stand.
Vera Imboden nickte grimmig. »Genau. Seit ihrem letzten Urlaub, der notabene gerade mal viereinhalb Tage gedauert hat, das Wochenende inklusive, sind jetzt zehn Monate vergangen. Das heißt, Sie arbeiten pausenlos, machen Überstunden ohne Ende, übernehmen Dienste für Kollegen und haben auf diese Weise einen Berg von Ferien und Überstunden angehäuft, den Sie in diesem Leben kaum noch beziehen können.«
Tina unterdrückte den Impuls, mit den Schultern zu zucken und etwas wie: »Na und?«, zurückzuschießen. Sie wusste selbst am besten, dass sie nur arbeitete, ohne sich jemals Zeit für sich zu nehmen oder ein echtes Hobby zu pflegen. Außer, dass sie hin und wieder romantische Serien aus Korea schaute. Die Arbeit war ihr Leben. Es lenkte sie von sich selbst und ihrer Situation ab.
»In Kürze feiern Sie Ihren neunundfünfzigsten Geburtstag und in fünf Jahren gehen Sie in Rente.« Imboden nahm mit spitzen Fingern ihre auf der Nasenspitze balancierende Lesebrille ab und fixierte sie mit kalten Augen wie ein Frosch die fette Fliege an der Wand. »Sind Sie sich dessen bewusst, Frau Dr. Villiger?«
Tina war verwirrt. Was sollte diese Frage? Sie konnte brillant über Fachfragen diskutieren und hatte sich noch aus jeder verfänglichen Diskussion herausgewunden. Aber dieser Angriff auf ihre Privatsphäre erwischte sie auf dem falschen Fuß. »Ja, also … Ich denke …«, stotterte sie und suchte fieberhaft nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, um wieder festes Terrain zu finden.
»Tina.« Karlheinz Peter schaltete sich breit lächelnd ein, zu dem sie menschlich den besten Draht im Aufsichtsrat hatte. »Wir machen uns doch nur Sorgen um dich. Wie kann ein Mensch denn unter dieser Dauerbelastung funktionieren, der du ausgesetzt bist? Du wirst nicht jünger und du sollst dich hier doch nicht zu Tode schuften.«
Endlich fand Tina ihre Contenance wieder. »Mir geht es gut. Die Klinik ist mein Leben und ich brauche keinen Urlaub, um mich entspannen zu können.«
Vera Imboden pochte mit dem Fingerknöchel auf den Tisch. »Aber als Arbeitgeberin haben wir eine gesetzliche Verantwortung. Was denken Sie, wie man mit dem Finger auf uns zeigen würde, sollten Sie plötzlich an einem Burn-out erkranken oder Schlimmeres?«
»Wie gesagt, ich fühle mich gesund und vital. Die Arbeit ist mein Leben. Ich komme jeden Tag gerne in die Klinik und kümmere mich mit Herzblut um alle Belange.«
»Frau Dr. Villiger, das zweifelt auch niemand an. Doch es ist unsere Verantwortung, dass die Arbeitsgesetze eingehalten werden und Sie Ihre angehäuften Ferien und Überstunden endlich abbauen. Das funktioniert nur, indem Sie tatsächlich in Urlaub fahren.«
Tina holte Luft, um etwas zu erwidern, aber Vera Imboden hob die Hand. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Die Arbeitsbelastung ließe es nicht, so viele wichtige Projekte, sie hätten keine fähige Stellvertretung et cetera blah-blah. Aber jetzt muss sich etwas ändern.«
Eine kalte Faust umschloss Tinas Herz. Wollte man sie etwa degradieren oder gar entlassen?
Wieder war es Karlheinz, der Tinas Gefühle offenbar gelesen hatte und hilfreich eingriff. »Keine Angst, niemand will dich loswerden. Aber wir müssen das Problem aktiv anpacken, sonst fliegt es uns eines Tages um die Ohren.«
Tina atmete verstohlen tief durch. »Und wie sieht die Lösung aus?«
»Wie Frau Imboden gesagt hat, gehst du in fünf Jahren in Rente. Hast du dir schon einmal darüber Gedanken gemacht, was du dann tun willst?«
Tina schüttelte den Kopf. Nein, an dieses Szenario hatte sie noch nie einen Gedanken verschwendet. Fünf Jahre waren ja so lange hin, da konnte noch alles Mögliche passieren.
»Siehst du, das haben wir uns gedacht. Und damit du dich jetzt schon langsam auf diesen unausweichlichen Schritt vorbereiten kannst, wollen wir dir dabei helfen. Fange doch damit an, deine aufgelaufenen Ferien und Überstunden zu beziehen, und nimm dir eine ausgiebige Auszeit.«
Tina klappte das Kinn herunter. »Eine Auszeit … Ich? Was soll ich denn damit?«
Zum ersten Mal erklang wohlwollendes Kichern von den Anwesenden.
»Frau Dr. Villiger, ich sehe, Sie führen diese Klinik mit Disziplin und starker Hand. Aber dabei vernachlässigen Sie Ihr eigenes Leben. Deshalb geben wir Ihnen die Möglichkeit, die Klinikleitung Stück für Stück abzugeben und sich auf Ihren dritten Lebensabschnitt vorzubereiten. Und wohlgemerkt, das ist keine Degradierung oder Entmündigung. Verstehen Sie es viel mehr als Dank für Ihre geleisteten Dienste und gönnen Sie sich etwas Gutes.«
Tina blinzelte. Vera Imboden klang plötzlich ein bisschen menschlich. »Was soll ich dazu sagen? Ich habe mir darüber wirklich noch nie Gedanken gemacht.«
»Du könntest beispielsweise ein Buch schreiben«, schlug Karlheinz vor.
»Oder eine fortschrittliche Entzugsklinik in den USA besuchen«, warf jemand anderes ein.
»Oder in ein Kloster gehen und fasten.«
»Oder in Nepal meditieren.«
»Oder einfach mal einen Monat in ein einsames Schloss in Schottland fahren.«
Tina hielt sich den Kopf mit beiden Händen fest. Das wurde ja immer besser. Da würde sie glatt durchdrehen.
»Ich habe wirklich keine Zeit für solche…«
»Deshalb erhalten Sie zuerst einmal Entlastung für ihre tägliche Arbeit als Klinikleiterin«, unterbrach Vera Imboden ihre Abwehr und nickte Karlheinz zu. »Herr Peter, holen Sie ihn rein.«
Karlheinz stand auf, lächelte Tina zwinkernd zu, als er an ihr vorbei ging und die Tür öffnete. »Dr. Kim, darf ich Sie bitten?«
Tina drehte sich herum und erblickte einen hochgewachsenen, schlanken Asiaten. Seine Haare waren perfekt geschnitten und tiefschwarz. Nur an den Schläfen schimmerten sie hell. Er sah genauso aus, wie die Ärzte in den koreanischen Serien. Mittlerweile konnte sie deren für uns oft unergründlich fremdartige Mimik ziemlich gut deuten. Sie starrte Dr. Kim wie gebannt an. Er war wirklich ein absoluter Hingucker. Sein Gesicht sah zwar aus wie das eines Fünfundzwanzigjährigen, aber die feinen Krähenfüße an seinen Augen verrieten ihr, dass er gut und gern fünfzig Jahre oder älter sein konnte. Auch seine großen Hände waren bemerkenswert elegant und mit perfekt gepflegten Fingernägeln versehen.
»Anyeong-ahsyo. Kim Dae Jeong, ibnida. Guten Morgen. Ich heiße Dejong Kim, nach deutscher Sprechart.« Sein Hochdeutsch hatte einen leicht abgehackten, doch charmanten, asiatischen Akzent. Tina starrte den markanten Adamsapfel an, der beim sprechen auf und ab hüpfte.
Unbewusst stand sie auf und verneigte sich auf koreanische Art. »Anyeong-ahsyo! Villiger Ti Na, ibnida
Kim streckte ihr die Hand hin. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Automatisch antwortete sie ebenfalls auf Hochdeutsch. »Ich hätte nicht erwartet, auf Koreanisch begrüßt zu werden.« Sie erwiderte seinen erstaunlich harten Händedruck. Eigentlich wusste sie noch gar nicht, weshalb Dr. Kim wirklich hier war und doch war sie seinem Charme vom ersten Moment an erlegen.
Vera Imbodens politische Stimme holte sie in die Realität zurück. »Na, wie ich das sehe, verstehen Sie sich ja prächtig. Dann steht einer guten Zusammenarbeit nichts im Wege. Wir haben Dr. Kim als Oberarzt und Ihren Stellvertreter eingestellt. Er soll Sie in der täglichen Arbeit unterstützen und die Klinik während Ihrer Auszeit führen.«
Nun kehrte Tina in ihre Rolle als Klinikleiterin zurück und verbannte das Lächeln, das sich auf ihrem Gesicht festgesetzt hatte. »Dann ist das also schon beschlossen worden, bevor ich mich dazu äußern konnte?«
»Es hätte nichts an der Situation geändert, Frau Dr. Villiger. Sie müssten so oder so dazu gezwungen werden, Ihren Urlaub und die Überstunden zu beziehen. Dr. Kim fängt in acht Tagen am 1. März an. Bereiten Sie bis dahin ein Büro für ihn vor. Noch Fragen?« Die letzte Bemerkung war nur rhetorisch gemeint, weshalb sie den Kopf schüttelte. »Gut, dann sehen wir uns um zwölf Uhr zum Mittagessen. Dr. Kim wird uns ebenfalls Gesellschaft leisten. Führen Sie ihn bis dahin durch die Klinik, Frau Dr. Villiger. Dann bis später.« Vera Imboden nickte ihnen abschließend zu, wie es auch Tina gerne zu tun pflegte, dann verließen sie das Sitzungszimmer.

Während sie Dr. Kim durch die Klinik führte und überall vorstellte, beobachtete sie immer wieder fasziniert, wie sein natürlicher, asiatischer Charme auf ihre Mitarbeiter wirkte und ihnen ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Er verkörperte diese Mischung aus Vertrautheit und vornehmer, fast schüchterner Distanz, die sie so gut aus den Serien kannte. Bisher hatte sie immer gedacht, das sei bloß im Film so, aber dass sich Dr. Kim im echten Leben so bewegte und ausdrückte, hätte sie niemals gedacht. Andererseits, wenn die sanfte Seite des Koreaners echt war, dann konnte auch das plötzlich laut Aufbrausende zum Vorschein kommen. Als in einem Film das erste Mal jemand plötzlich so animalisch losgebrüllt hatte, war sie erschrocken zusammengezuckt. Aber der Kontrahent im Film hatte es stoisch über sich ergehen lassen und ungerührt etwas erwidert, worauf der Brüllhans wieder heruntergekommen war.
»Woran denken Sie?«, fragte Dr. Kim. Hatte sie ihre Mimik so schlecht im Griff?
Sie schüttelte den Kopf. »Sie würden mich für verrückt oder kindisch halten, wenn ich es ihnen erzählen würde.«
»Sie haben mich heimlich beobachtet. Wo haben Sie eigentlich Koreanisch gelernt?«
Jetzt wurde sie doch tatsächlich rot. »Ich liebe asiatische Serien, vor allem die koreanischen. Da habe ich schon die einen oder anderen Gesprächsbrocken aufgeschnappt und aus purem Spaß ein paar Vokabeln gelernt. Aber von Verstehen oder gar dem Führen einer Konversation bin ich weit entfernt.«
»Ah, ich verstehe.«
Was mochte er hinter seinem hübschen Gesicht denken?
»Dann kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen, und Ihren Wortschatz erweitern.«
Tina blickte ihn an. Er schien es ernst und ehrlich zu meinen. Doch auch das war eine Spezialität asiatischer Filme, dass die Charaktere oft hinter ihrem freundlichen Pokerface Intrigen spannen. Wieder schüttelte sie den Kopf. Sie musste unbedingt aufhören, Dr. Kim ständig mit ihren Filmfiguren zu vergleichen. Viel wichtiger war, was sie aus der neuen Situation machen sollte. Dass dieser attraktive Oberarzt neben ihr herlief und ihr Stellvertreter werden würde, war eine Tatsache. Würde er kooperieren oder bei erstbester Gelegenheit versuchen, sie aus ihrer Position zu hebeln, um selbst Klinikleiter zu werden?
»Was ist Ihr Fachgebiet, Dr. Kim?«, fragte sie.
»Nach dem Bachelor habe ich in Heidelberg studiert und mich auf die Behandlung von Suchtkrankheiten spezialisiert.«
»Wo haben Sie sich mit den verwaltungstechnischen Abläufen einer Klinik wie der unseren, die so viele Fachrichtungen umfasst, vertraut gemacht? «
»Nach dem Studium habe ich mein praktisches Jahr im John Hopkins Medical Center in Baltimore absolviert. Danach arbeitete ich einige Jahr in Seoul und wurde dann nach Heidelberg berufen, wo ich zum Stellvertreter des Klinikleiters aufstieg. Das Universitätskrankenhaus war um Einiges komplexer als Ihre Klinik.«
»Beeindruckend.« Sie betraten ihr eigenes Büro. Tina wies auf den Sessel ihrer kleinen Polstergruppe. »Bitte nehmen Sie Platz.«
Dr. Kim wartete, bis sie sich gesetzt hatte, bevor er selbst Platz nahm.
»Aber warum werden Sie nicht selbst Klinikleiter?« Bis jetzt hatte sie noch keinen Anhaltspunkt gefunden, dass er Ambitionen auf ihren Posten hätte.
Er sah ihr offen und frei in die Augen. »Zuviel Verwaltungskram. Ich bin nicht Arzt geworden, um meine Zeit nur noch mit administrativen Belangen zuzubringen. Mein Herz schlägt für die Menschen, die meine Hilfe brauchen.«
Sie seufzte. »Ja, da haben Sie recht. Mir fehlt der Kontakt zu den Patienten auch. Deshalb übernehme ich viele zusätzliche Dienste von Kollegen, um am Ball zu bleiben. Für Privates bleibt da nicht mehr viel Zeit.«
Dr. Kim schmunzelte. »Außer für koreanische Serien.«
Sie erlaubte sich ein kleines Lächeln und hob die Schultern. »Das ist meine kleine Freude, wenn ich mich entspannen will.«
Nach einer Weile Small-Talk schaute sie auf ihre Uhr. »So, Zeit fürs Mittagessen mit dem Aufsichtsrat. Lassen Sie sich von Frau Imboden einfach nicht einschüchtern. Sie liebt es, die Platzhirschin zu sein, aber auf der sachlichen Ebene ist sie eine kompetente Verhandlungspartnerin.«
Sie stand auf und wies Dr. Kim den Weg zur Tür. »Crom«, rutschte ihr eine weitere Floskel heraus, die ihrem häufig benutzen »Also dann« entsprach.
Er spielte mit, neigte ebenfalls den Kopf und knarrte mit tiefer Stimme: »Crom.« Dann marschierten sie gemeinsam zur Kantine, wo sie in einem separaten Raum auf den Aufsichtsrat treffen würden.
Tina entspannte sich immer mehr. Sie fand keinen Ansatz, dass Dr. Kim ihr gefährlich werden würde. So konnte sie sich innerlich mit der baldigen Auszeit auseinandersetzen, die zwar noch wie ein unerforschter Berg vor ihr stand. Aber in ihrem Leben hatte sie noch jeden Berg bezwungen und es wäre gelacht, wenn sie nicht auch diese Auszeit effizient und sinnerfüllt verbringen würde.


Tina ließ ihre Joggingrunde auf den letzten Metern vor ihrem Haus gemütlich ausklingen, atmete tief durch und dehnte sich. Sie genoss es, dass sie dank der Unterstützung durch Dr. Kim fast regelmäßig pünktlich Feierabend machen konnte und endlich wieder einmal für sich selbst Zeit fand. Er lernte rasch, war fleißig und begriff Abläufe blitzschnell. Und er war so genügsam, dass es beim Zuschauen wehtat. Anstatt eine standesgemäße Wohnung zu mieten, hatte er im Mitarbeiterwohnheim neben Praktikanten und Schwesternschülerinnen ein kleines Zimmer mit Dusche und einer winzigen Einbauküche genommen. Er schien kein Privatleben zu haben und arbeitete fast rund um die Uhr. Tina hatte ihn deswegen schon ermahnt und ihm klargemacht, dass auch er sich an die arbeitszeitlichen Vorgaben zu halten habe. Amüsiert stellte sie fest, dass in den letzten Jahren sie es gewesen war, die genau an diesem Punkt versagt hatte.
Nach dem Duschen zündete sie ein paar Kerzen an und setzte sich mit einem Buch ins Wohnzimmer. Dazu sog sie an einem grünen Smoothie, den sie sich gemixt hatte.
Ihr Handy klingelte. Sie senkte das Buch und warf einen Blick aufs Display. Es war ihre Nichte Kiara. Sie nahm das Gespräch entgegen.
»Hallo, Kiara. Hast du mich vermisst?«
»Hey, Tantchen. Naja, vermisst ist noch untertrieben. Dabei hast du doch jetzt mehr Zeit, oder?«
»Das ist verrückt. Obwohl ich Entlastung bekommen habe, läuft mir die Zeit davon. Ich werde wohl doch langsam älter.«
Kiara kicherte. »Du spinnst doch. Ich glaube eher, dass du vor dir selbst davonläufst. Weißt du endlich, wie du deine Auszeit gestalten wirst?«
Tina schnaubte auf. »Jetzt hast du meinen Leseabend ruiniert«, knurrte sie ins Telefon.
Kiara zwitscherte: »Du bist also noch nicht weiter? Das hab ich mir schon gedacht. Hey, soll ich rüberkommen und dir beim Nachdenken helfen? Hier ist es sowieso ungemütlich. Die reißen die Straße auf und arbeiten von früh morgens bis spät abends. Ich hab da noch eine Flasche Rahmlikör, die wir uns zu Gemüte führen könnten.«
Tina schob die Unterlippe vor. Kiara wusste immer, wie sie sie triggern konnte. »Also gut, du hast mich überredet. Wenn du magst, kannst du hier übernachten. Das Gästezimmer ist bereit.«
»Du hast mich auch überredet. In einer Viertelstunde bin ich bei dir.«
Tina legte auf und sah sich in der Wohnung um. Aber bei Kiara musste sie sich eigentlich keine Gedanken machen. Sie war, genau wie Tinas Schwester, das pure Gegenteil zu ihrem Perfektionismus, schon fast ein wenig zu chaotisch. Mit Kiara verband sie seit deren Teenagerjahren eine Freundschaft auf Augenhöhe. Sie liebte das quirlige, von Ideen übersprudelnde Mädchen, und verbrachte gerne Zeit mit ihr. Jetzt war Kiara auch schon fast dreißig und arbeitete als Sprechstundenhilfe in der Klinik Hirslanden, zehn Minuten von Fällanden entfernt. Nur etwas machte ihr Sorgen. Kiara sehnte sich so nach einer schönen und stabilen Beziehung zu einem netten Mann. Doch sie hatte ständig Pech und traf immer nur Schmarotzer oder Verlierertypen. Zurzeit datete sie einen Luca, aber sie sprach nicht darüber. Also war es vermutlich auch nicht die große Liebe, auf die sie wartete. Es konnte sich nur noch um Wochen handeln, bis sie sich bei Tina ausweinte, mit ihr eine Flasche Rahmlikör trank, dazu zweihundert Gramm Pralinen aß und sich dann frohgemut den nächsten Looser anlachte. Es war ein Jammer. Wenn sie ihr nur helfen könnte. Aber wie sollte sie ihrer Nichte denn schon groß helfen, wo sie selber beziehungsunfähig war, zumindest was Männer anging. Dabei hatte sie als junges Mädchen auch Wünsche und Träume gehabt. Doch darüber wollte sie jetzt nicht nachdenken. Deshalb schob sie diese Gedanken entschieden beiseite und öffnete die Fenster, um noch ein wenig frische Luft hereinzulassen, bevor Kiara ankam.

Tina schob sich einen Löffel Tiramisu in den Mund und nippte an ihrem Glas. Dabei mied sie geflissentlich Kiaras Röntgenblick.
»Ehrlich, Tina, du bist noch keinen Zentimeter weiter gekommen? In zwei Wochen beginnt dein Urlaub. Und dann? Wie willst du die Zeit füllen?« Sie stocherte mit ihrem Löffel in ihrem Dessert und sah Tina streng an.
»Weißt du, ich habe einfach keinen Plan. Weder für diese Auszeit, noch für meine Pensionierung.«
»Hast du nicht erzählt, man habe dir nahegelegt, die Auszeit als Übung und Vorbereitung auf die Rente anzusehen?«
»Ja«, gab Tina kleinlaut zu.
Kiara nahm einen großen Schluck Bailey’s und goss sich nach. Tina schob ihr Glas ebenfalls näher und ließ es von ihrer Nichte auffüllen.
»Hast du es schon einmal mit Aufschreiben probiert?«
Tina schüttelte den Kopf. »Was soll ich schon groß notieren?«
»Einfach mal Ideen zusammentragen. Kennst du die Cluster-Methode?«
»Schon davon gehört.«
»Ah, immerhin, aber noch nie selbst angewendet? Hol doch mal einen Schreibblock und Stifte.«
Tina erhob sich seufzend. Wenn sich Kiara in etwas hineinsteigerte, gab es kein Entweichen. Aber jetzt war doch ihre Neugierde geweckt, was aus diesem Experiment werden konnte. Sie legte den Block und die Stifte auf den Tisch.
»So, wir schreiben erst für uns selbst. Du für dich und ich ebenfalls für dich. Nach einer Weile tragen wir unsere Gedanken zusammen.« Sie riss für sich eine Seite ab und schob Tina den Block hin. »Beginnen wir mit Tätigkeitswörtern. Schreibe auf, was dir einfällt und zeichne einen Kreis darum. Dann lässt du die Gedanken wandern und schaust, was dir zu diesem Wort einfällt. Schreib sie rings um den Begriff herum, kreise sie auch ein und verbinde sie zusätzlich mit dem zentralen Wort. Wenn dir zu den neuen Begriffen noch mehr einfällt, schreibst du einfach immer weiter nach außen. Hast du das Prinzip begriffen?«
Tina nickte. »Alles klar, legen wir los.« Sie neigten die Köpfe und begannen, zu schreiben, Kreise und Linien zu zeichnen. Schon bald füllten sich die Blätter und Tina wich auf eine neue Seite aus. Schließlich versiegten die Ideen und sie blickte auf.
»Bist du fertig?«, fragte Kiara. »Und, wie ist es gelaufen? Hast du die innere Quelle gefunden?«
Tina strich sich eine Strähne hinter das Ohr. »Ja, es ist erstaunlich. Im Nu hatte ich zwei Seiten vollgeschrieben. Ich weiß gar nicht, wo die Gedanken alle hergekommen sind.«
Kiara lächelte. »Nicht wahr? Mich begeistert es auch immer wieder. Dann lass mal hören.«
Tina hatte das Prinzip begriffen und begann schon damit, nach dem Ausschluss-Verfahren Dinge durchzustreichen, die keinen Sinn machten. »Meine Tätigkeiten sind Schlafen, Essen, Wandern, Renovieren, Lesen, Serien gucken, Fahrradfahren, Reisen, Musizieren, Kontakte pflegen, alleine sein …«
»Super. Ich habe noch weitere, die ich dir anbieten kann: Töpfern, Korbflechten, Tischlern, Singen, Neues lernen, ins Kloster gehen.«
»Ich habe rund vier Monate, die ich ausfüllen muss. Dabei bin ich frei, ob ich die Zeit am Stück oder aufgeteilt nehmen will. Wenn ich das alles sehe, bräuchte ich mindestens ein Jahr.«
»Wenn du zur Ruhe kommen willst, wäre vielleicht eine erste längere Zeitspanne ideal, wo du etwas tun kannst, um ganz zu dir zu finden.«
Tina rümpfte die Nase und zeigte auf Kiaras Blatt. »Meinst du das mit dem Kloster ernst?«
»Ja, es gibt Schweigewochen, die sehr reinigend wirken. Dabei darfst du den ganzen Tag nicht mit anderen Menschen kommunizieren. Nur lesen, singen, beten oder spazieren. Eine Kollegin von mir hat das schon gemacht und es als sehr bereichernd empfunden.«
Tina legte den Kopf schief. »Ich weiß nicht so recht. Schau mal, zu den Tätigkeiten habe ich schon ein paar Wünsche gesammelt. Ich würde gerne mal eine mehrtägige Wanderung machen oder mit dem Fahrrad fahren. Mir kam so die Idee, ich könnte alle sechsundzwanzig Schweizer Kantonshauptstädte mit dem Fahrrad besuchen und ein Selfie vor dem jeweiligen Rathaus schießen.«
»Ja, tolle Idee. Ich bin sicher, dass du da innerlich zur Ruhe kommst.«
»Und dann wollte ich gerne mal nach Asien reisen.«
»Korea im Speziellen?«, hakte Kiara mit einem wissenden Augenzwinkern nach.
Tina lächelte versonnen. »Ja. Und wenn es machbar wäre, würde ich gerne die Kirschenblüte oder die Pfirsichblüte erleben.«
»Na, schau an, so viel Romantik hätte ich dir gar nicht zugetraut.«
»Ach was, ich ginge doch allein. Da mache ich mir keine Gedanken von wegen Romantik.«
Kiara zwinkerte neckisch. »Vielleicht lachst du dir ja einen netten Koreaner an? Ist nicht dein neuer Oberarzt Koreaner?«
»Ja, ja, und abends geht die Sonne auf. Mach dir da mal keine Hoffnungen. Für mich ist der Zug abgefahren.«
»Wer weiß, Wunder sind immer möglich.«
Tina kritzelte demonstrativ auf ihren Blättern. »Vielleicht melde ich mich für einen Einsatz in einem Hilfsprojekt irgendwo in der Dritten Welt. Da muss ich mal recherchieren, ob sie auch Psychiater brauchen können. Oder ich gehe in Afrika Brunnen graben.«
Kiara runzelte die Stirn. »Du willst im Dreck buddeln?«
Tina zuckte mit einer Schulter. »Wäre doch mal was anderes.« Sie faltete ihre Notizen zusammen. »Danke, Kiara, du hast mir sehr geholfen. Diesen Schubser habe ich gerade sehr nötig gehabt. Aber jetzt genießen wir den Rest des Abends.«
»Und woran hast du gedacht?«, fragte Kiara mit lachenden Augen.
»An einen asiatischen Film …«
Kiara schlug sich lachend auf die Schenkel. »Was auch sonst. Ich bin dabei.«

Als Tina am Morgen erwachte, fühlte sie sich wie von einem Traktor überfahren. Trotz des lustigen Abends mit Kiara, hatte sie schlecht geschlafen. In ihren Träumen irrte sie endlose Korridore entlang. Geradeaus näherte sie sich einer offenen Tür, hinter der goldenes Licht leuchtete. Aber es blendete so stark, dass sie sich davor fürchtete und lieber im modrigen Schatten blieb. Doch hinter ihr rückten finster dreinblickende Gestalten mit Hämmern und Brechstangen näher. Im Traum war ihr klar, dass sie vor diesen Typen flüchten musste und der einzige Ausweg war die goldene Tür. Kurz bevor sie durch die Tür schritt, änderte sich der Traum und sie befand sich in einer weiteren, beengenden und überfordernden Situation. So schlug sie sich die Nacht irgendwie um die Ohren. Bis sie mit Kopfschmerzen erwachte, im Nacken ein Ziehen spürte und den Eindruck hatte, ihre Augen seien zur Größe von Tomaten geschwollen.
»Guten Morgen, Tina«, zwitscherte Kiara, die bereits dabei war, Frühstück zuzubereiten. »Gut geschlaf… Oh mein, was ist denn mit dir los? Bist du krank?«
Tina rieb sich den Nacken. »Nein, mir geht es gut.«
»Du übertreibst wieder einmal maßlos. Sag schon, was ist passiert?«
Tina ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen. »Ich würde sagen, die Auszeit wirft ihre Schatten. Und der Likör hat auch nicht unbedingt geholfen. Danke fürs Frühstück machen.«
Kiara goss den Kaffee auf die altmodische Art auf und schenkte zwei Tassen ein. Sie stellte eine vor Tina ab. »Trink erst mal einen Schluck. Vielleicht wird es ja besser.«
»Danke.« Tina gab etwas Milch hinein und nippte an ihrer Tasse. »Ich habe wieder vermehrt Kopfschmerzen. Vielleichte sollte ich ein Aspirin nehmen.« Aber sie fühlte sich zu schlapp, um nochmals aufzustehen und im Badezimmer nach den Tabletten zu suchen. Sie setzte die Tasse ab und massierte sich die Schläfen.
»Ich bin da auf ätherische Öle gestoßen, die bei Verspannungen extrem gut helfen«, sagte Kiara und strich sich ein Brot. Dann biss sie hinein und fragte kauend: »Willst du es mal ausprobieren?«
»Ach, das sind doch Märchen. Da muss man vor allem dran glauben, damit es hilft.« Tina hatte noch nie viel für alternative Heilmethoden übrig gehabt. Dass jetzt Kiara damit anfing, wunderte sie schon ein bisschen.
»Das habe ich auch immer gedacht. Aber in den letzten Jahren wurden die biochemischen Vorgänge im Körper besser erforscht und man hat herausgefunden, dass die ätherischen Öle in ihrer reinsten Form direkt in die Zellen eindringen und ihre Vitalität positiv unterstützen. Es gibt sogar Öle, die die Hirnblutschranke überwinden und so psychoaktiv wirken können. Mit dem ätherischen Öl von Weihrauch erhält das Hirn achtunddreißig Prozent mehr Sauerstoff, was sich auf die Konzentrationsfähigkeit auswirkt.« Kiaras Augen leuchteten, als sie sich für das Thema immer mehr erwärmte.
»Aber ich habe nur zuviel Likör getrunken, schlecht geschlafen, einen verspannten Nacken und Kopfschmerzen.«
Kiara sprang auf und kam gleich darauf mit einem Fläschchen zurück. »Probier doch diesen Roller aus. Streiche ein wenig auf den Nacken, hinter die Ohren und an die Schläfen. Aber pass auf, dass du nicht zu nah an die Augen kommst. Die Mischung ist ziemlich stark. Dann legst du dich nochmals ein paar Minuten hin und wartest ab, was passiert.«
Tina sah zur Küchenuhr an der Wand. »Okay, ich probiere es aus. Groß Hunger habe ich sowieso nicht.« Sie schraubte den Deckel ab und roch am Roller. Der Duft war wirklich sehr stark und stechend und nicht besonders angenehm. Unwillkürlich rümpfte sie die Nase und sah Kiara zweifelnd an.
»Ja, ich weiß, diese Mischung riecht nicht so gut wie andere. Aber sie erfüllt ihren Zweck.« Kiara schlug ein hartgekochtes Ei auf.
Tina entschied, dass sie nichts zu verlieren hatte, und strich sich das Öl sorgfältig an die von Kiara beschriebenen Stellen. Dann ging sie ins Wohnzimmer, legte sich auf die Couch und schloss die Augen. Kurz darauf wurden die eingestrichenen Stellen kalt, als hätte sie Eis aufgelegt.
»Und bewusst atmen«, rief Kiara aus der Küche.
Tina musste lächeln. Von dieser Technik hatte ihr Kiara schon vor einem halben Jahr vorgeschwärmt. Sich bewusst auf den Atem zu konzentrieren, konnte helfen, innerlich zur Ruhe zu kommen und lästiges Gedankenkarussell loszuwerden. Sie konzentrierte sich auf den nächsten Atemzug, hielt die Luft ein paar Sekunden an und ließ sie wieder bewusst und konzentriert entweichen. Das wiederholte sie noch drei Mal.
Dann wachte sie mit einem Ruck auf. Die Kopfschmerzen waren zusammengeschrumpft wie Bohnen im Dörrapparat und kaum noch vorhanden. Die Verspannung im Nacken war verschwunden und sie fühlte sich wieder erfrischt. Langsam setzte sie sich auf und blickte auf die Uhr. Es war gerade einmal eine Viertelstunde vergangen. Kiara klapperte in der Küche und summte eine Melodie.
Tina streckte sich und drehte probeweise den Nacken. Die Verspannungsschmerzen waren wirklich weg. Und von den Kopfschmerzen konnte sie nur noch erahnen, dass sie vorher da gewesen waren. »Das ist wirklich unglaublich, Kiara. Ich fühle mich wie neu geboren. Oder zumindest wie ausgeschlafen.«
Kiara strahlte. »Siehst du? Wenn du willst, führe ich dir das nächste Mal meine Ölsammlung vor. Aber jetzt muss ich mich langsam auf den Weg machen. Die Arbeit ruft.«
»Abgemacht. Das hat mich überzeugt. Und ich muss auch los.«